Grün-Rot will einen neuen politischen Stil in Baden-Württemberg etablieren. Zumindest die Grünen, bei der SPD bin ich mir da gar nicht so sicher. Von der Politik des Gehörtwerdens und der Bürgergesellschaft ist die Rede. Mensch, was machen wir denn jetzt daraus? Wollen „die da oben“ das wirklich? Sich jeden Tag unsere Problemchen und Wehwehchen anhören? Oder wollen sie uns nur ab und zu mal zum Kaffee treffen? Und was können wir tun?
Stuttgart „I love you“ manchmal
Das „manchmal“ trifft es wohl am ehesten. Wie machen wir denn nun diese Bürgergesellschaft, Herr Kretschmann? Oder sind wir schon eine? Ja, ich weiss, Sie sind noch immer „designiert“, aber man macht sich schon einmal seine Gedanken. Laut Kretschmann sollen alle Ministerien spezielle Anlaufstellen bekommen, an die sich die Bürger wenden können. Ein spezieller Posten für die Bürgergesellschaft wird geschaffen. Besetzt wird diese Stelle mit einer ehrenamtlichen Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft. Diese soll das Thema Bürgerbeteiligung/Bürgergesellschaft die nächsten 5 Jahre begleiten und vorantreiben. Das ist ein Novum und das finde ich sehr gut. Doch irgendetwas hinkt an dieser ganzen Bürgerbeteiligung und der direkteren Form der Demokratie.
Bürgerbeteiligung ist kein einseitiger Dialog
Natürlich ist es wichtig, dass „dort“ schon Gedanken und Posten besetzt werden, wie eine Bürgerbeteiligung zukünftig ablaufen könnte. Auf Bürgerseite sehe ich momentan häufig Ratlosigkeit, was diesen Punkt betrifft. Mehr direkte Demokratie, ja. Mehr Bürgerbeteiligung, ja. Aber ich habe keine Lösung, wie wir das angehen könnten. Oder hey, ich will das eigentlich gar nicht so intensiv. Dennoch ist es aus meiner Sicht unausweichlich, dass Bürger an dieser Entwicklung teilnehmen und sie mitformen können. Eine sogenannte „Bürgergesellschaft“ funktioniert nur mit der Beteiligung der Bürger an diesem Prozess. Ansonsten bekommen wir erneut nur eine von „oben aufgesetzte Bürgergesellschaft“, entwickelt von der Politik. Mal hier eine offene Bürgerversammlung, mal da. Um aber Prozesse und Denkweisen auszutauschen und zu verändern ist es zwingend die Bürger einzubinden. Proaktiv.
Die Problematik der Bürgergesellschaft
Was ist denn überhaupt eine Bürgergesellschaft? Für mich klingt dieses Wort zwar schön, aber wir haben sie doch längst, die Bürgergesellschaft. Indem Menschen für ihre Anliegen auf die Straße gehen ist diese Gesellschaft also schon vorhanden. Die Frage ist, wie viele dieser Menschen sich längerfristig für die Bürgergesellschaft engagieren wollen. Bürgergesellschaft besteht sowohl aus Demonstrationen, als auch aus Verhandlungen mit der Politik. Und da kommen wir doch genau zum Knackpunkt. Wer verhandelt von Bürgerseite aus mit der politischen Seite. Wer trägt die Interessen weiter? Ist es überhaupt im Sinne einer Bürgergesellschaft, dass Ideen, Anregungen „weitergetragen“ werden? Müsste das nicht persönlich vorgetragen werden können?
Wenn die politische Definition der Bürgergesellschaft ist, dass sich Bürgerinitiativen und Politiker gemeinsam an einen Tisch setzen, dann kann das nur ein Aspekt der Gesamtsicht sein. Denn dann ist die Gefahr, dass über die Monate und Jahre hinweg die gleichen Klüngeleien wie bisher entstehen, sehr groß. Herr Kretschmann sagte bereits, dass es ab und zu offene Bürgersitzungen geben soll. Auch das kann nur ein weiterer Aspekt des Gesamten sein. Der Austausch zwischen Politik und Bürgern kann und muss regelmässig stattfinden.
Die Plattform der Bürgergesellschaft
Um nicht den Ball ständig den anderen zuzuspielen ist es wichtig sich selbst Gedanken zu machen und einzubringen. Was bietet uns zum Beispiel das Internet für Möglichkeiten miteinander zu kommunizieren? Wichtige Themenpunkte zu sammeln, zu gewichten, um diese dann in eine gemeinsame Diskussion mit Bürgern und Politikern einzubringen? Aus meiner Sicht fehlt die Plattform. Klar, man könnte Facebook nutzen. Aber Facebook ist nunmal nicht das Internet und aus meiner Sicht nicht geeignet. Eine unabhängige Plattform wäre wichtig. Den Aufbau solch einer Anlaufstelle im Internet könnte man z.B. schon als ersten Punkt in die Bürgergesellschaft einbringen. Ein Masterplan, was ist der Politik wichtig, was ist den Bürgern wichtig. Ich muss nicht jeden lokalen Politiker täglich treffen können. Viel wichtiger wäre das Einbringen aller Beteiligten in diese Bürgergesellschaft.
Ideen für eine Internet-Plattform
Jeder Bürger hat andere Anliegen. Das liegt in der Natur der Sache. Wichtig wäre zuerst einmal alle Anliegen der Bürger zu sammeln. Die Plattform müsste dann folgende Aufgaben erfüllen:
- Bewerten der einzelnen Anliegen durch alle registrierten Bürger: „Sehr wichtig“, „Wichtig“, „Unwichtig“, etc.
- Hinzufügen von Kommentare zu den einzelnen Anliegen
- Möglichkeit sich Interessensgruppen anzuschliessen
- Weiterentwicklung der Anliegen innerhalb der Plattform
- Bewertungssystem des Anliegens á la „Anliegen erstellt“, „Bürgerengagement läuft“, „Präsentationsreif“, etc.
- Online und Offline Verknüpfungen durch Terminkalender zu den einzelnen Anliegen schaffen
- …und bestimmt noch viele mehr
Wem sollte diese Plattform zur Verfügung stehen? Allen! Bürgern, Politikern (die ja auch Bürger sind), einfach allen. Wenn ein Kind ein Anliegen hat, dass die defekte Rutsche auf dem Spielplatz repariert wird, dann soll es das mit den Eltern gemeinsam eintragen können. Aus meiner Sicht müsste man allerdings eine Plattform entwickeln, die dann wiederum von anderen Städten etc. genutzt werden kann. Denn für mich würde momentan eine solche Plattform nur auf Städte oder Landkreise Sinn ergeben. Also ganz Baden-Württemberg auf einer Plattform würde wohl eher einem Desaster gleich kommen. Ausserdem würden Investitionen ja den jeweiligen Haushalt der Kommune oder Stadt betreffen.
Vorteile einer gemeinsamen Plattform für „Bürgergesellschaft“
Die Vorteile liegen denke ich auf der Hand. Man könnte Anliegen unterschiedlichster Bürger bündeln. Für jedes Anliegen könnten sich Interessensgrupen bilden, die das Thema online und offline weiter entwickeln. Die Plattform dient lediglich dem Informationsfluss. Den Status der Entwicklungen der einzelnen Anliegen könnte man auf der Plattform ständig einsehen. Für Politiker würde dies bedeuten, dass sich diese jederzeit offen und transparent über die Anliegen der Bürger und den jeweiligen Stand informieren können. Das könnten wir als Bürger angehen. Natürlich ist diese Plattform ein System, das ebenso wie die Bürgergesellschaft einer Entwicklungszeit und Anpassung an die Bedürfnisse der Bürger bedarf. Ich glaube es ist defintiv wichtig Fehler zu machen. Einen Fehler, den man aus vollster Überzeugung und gutem Willen heraus macht ist kein Fehler, sondern ein Startpunkt.
Wozu brauchen wir dann überhaupt die Politik?
Als Bürger habe ich selten Einblick in wichtige Details z.B. eines Bauplans, geschweige denn kenne ich den politischen Haushaltsplan. Wichtig ist, dass sich auf dieser Plattform ebenfalls Politiker und „Fachmänner/frauen“ beteiligen, die die einzelnen Anliegen der Bürger begleiten könnten. Eine Patenschaft wäre hier ein durchaus positives Instrument. Bürgerin „Schmitt“ hat das Anliegen, dass z.B. ein Kinderspielplatz gebaut wird. Architekt „Meier“ wird Pate dieses Anliegens und begleitet das Anliegen mit seinem Fachwissen.
Wieso brauchen wir das?
Stuttgart 21 hätte aus meiner Sicht niemals diesen Proteststatus erreicht, hätte man nur ein wenig auf die kritischen Stimmen in der Bevölkerung gehört und diese ernst genommen. Einerseits wäre also eine solche Plattform ein „Frühwarnsystem“ für Politiker, auf der anderen Seite hätten Bürger wirklich das Gefühl mit Ihren Anliegen ernst genommen zu werden und sich einbringen zu können. Hierfür möchte ich aber nicht jedesmal zu einer Anlaufstelle eines Ministeriums laufen müssen. Nein, diese Zeit hat wohl kaum einer der Bürger. Das Internet ist für die ersten Schritte aus meiner Sicht schneller, flexibler, unabhängiger.
Wen benötigt die Entwicklung einer solchen Plattform?
Zuerst einmal alle. Jeder Bürger sollte seine Ideen über einen bestimmten Zeitraum für eine solche Plattform einbringen können. Anschliessend werden die Wünsche von einem Arbeitskreis evaluiert, denn mit Sicherheit will nicht jeder Bürger eine solche Plattform entwickeln. Definitiv braucht es aber den Austausch zwischen Politik und dem Arbeitskreis. Denn für mich persönlich bedeutet „Bürgergesellschaft“ eben auch die Interessen der Politiker und der Bürger unter einen Hut zu bekommen.
Im Idealfall werden wir durch solch eine Plattform die kollektive Intelligenz kennenlernen. Denn wo ein Bürger ein Anliegen hat, da hat ein anderer eventuell schon die Lösung parat. Das wäre ein wirklicher Fortschritt hin zu einer Bürgergesellschaft. Zumindest aus meiner Sicht. Ach ja, mit Plattform meine ich nicht so etwas wie www.direktzu.de/stuttgart21, wo vorgefertigte Antworten via Copy&Paste eingefügt werden. Ich spreche von einem offenen, ehrlichen Dialog und Austausch auf Augenhöhe.
Interessante Idee. Der müsste aber ein Grundrecht auf Internetanschluss vorausgehen, was ich sowieso für notwendig halte. So wie jeder Strom und Wasser bekommt. Oder es müsste öffentliche Internetportale dafür geben. Hauptsache niemand wird ausgeschlossen.
Leider kenne ich mich nur im Internet aus;) Gibt es irgendwo kein Internet? Dann muss eine Förderung her. Vielleicht kann das die EnBW ja mitliefern?;) Ernsthaft glaube ich daran, dass es natürlich ganz viele Perspektiven für Lösungen gibt. Ich sehe das Internet eher als Brücke an. Als Brücke zur Realität da draussen. Mir ist klar geworden, wie viele tolle Menschen ich durch das Thema Stuttgart 21 kennengelernt habe. Wie toll wäre es da, wenn ich weiterhin Menschen mit gleichen Interessen kennenlernen könnte. Eben über gewisse Anliegen, die einige Bürger der Stadt haben. Das Internet kann uns zusammenbringen. Was es aber nicht kann ist die Realität ersetzen. Deshalb sind Treffen unausweichlich. Und ein Bier trinkt sich auch so schlecht durch diese Glasfaserkabel;)
Es existieren bereits diverse Foren und Blogs, die aus den gleichen Beweggründen heraus eingerichtet wurden. Für besonders interessant halte ich Konzepte, die dem Prinzip von „Liquid Democracy“ folgen. Es gibt bereits Parteien, die entsprechende Softwarelösungen einsetzen (Piratenpartei…)
Unsere kommunale Plattform http://www.forum-sipplingen.de verfolgte ursprünglich ebenfalls die Idee nach mehr Bürgerbeteiligung. Leider wurde unser Ansatz von den gewählten Lokalpolitikern hartnäckig gemieden, z.T. sogar diffamiert. Auch die Bürger scheuten bisher davor zurück, öffentlich Positionen zu beziehen und evtl. die Entscheidungsträger zu kritisieren (die Gründe sind sicherlich vielfältig). Inzwischen hat sich dieses Angebot deshalb eher zu einem Pressearchiv gewandelt.
Bleibt zu hoffen, dass die neue Regierung eine andere Atmosphäre im Sinne der Demokratie schafft…
Danke für deinen Beitrag, Forsi. Tatsächlich gibt es schon viele Foren und Blogs, aber genau darin liegt auch das Problem. Wohin soll ich denn nun gehen? Wo wird meine Stimme gehört? Es hilft niemandem 10000 Blogs und Foren zum Thema zu besuchen. Ich denke wir brauchen eine zentrale Stelle für Städte und Kommunen. Aber viel wichtiger als die Plattform ist die Bereitschaft der Politik mitzuziehen. Ohne diese Bereitschaft bleibt alles wie es bisher ist. Die Bürger machen so vor sich hin, die Politik ebenso. Gehört wird keiner. Daher auch mein Argument, dass eine Plattform gemeinsam entwickelt werden muss. Bei allem Tatendrang ist es eher kontraproduktiv, wenn sich einige Bürger Mühe geben, viel Zeit investieren, um am Ende das Ergebnis „Desinteresse von Seiten der Politik“ zu ernten. Und ich hoffe tatsächlich auf die neue Regierung. Gemeinsam könnten wir so vieles schaffen.