Die letzten Tage habe ich ein paar Gedanken zum Thema Kinder festgehalten. Dies ist kein schlüssiger, argumentativ hochwertiger Artikel, sondern eine Ansammlung von Gedanken, die in meinem Kopf umherschwirren. Vor kurzem hatte ich über eine Studie berichtet, die erforscht hat, wie viele Eltern ihre Kinder schlagen. Ich habe mich wahnsinnig darüber ausgelassen, wie viele Kinder geschlagen werden. Doch heute möchte ich das Ganze mal aus dem Blickwinkel der Eltern betrachten.
Regeln, Regeln und gutes Benehmen
Nun ist es so, dass Kinder in den wenigsten Fällen das tun dürfen, was sie gerne tun möchten. Kind sein. Einflüsse von aussen zwingen die Kleinen sich ständig an „Regeln“ zu halten, die zwar erwachsenen Menschen sinnvoll erscheinen, Kindern aber völlig fremd sind. Der Klassiker: man sitzt mit seinen Kindern in der U-Bahn und plötzlich sagt der Kleine:
Papa, die Frau ist aber dick!
Vielen Erwachsenen treibt es dabei die Schamesröte ins Gesicht, meist versuchen sie die Situation zu retten, indem sie erwidern:
Das sagt man aber nicht! Die Frau ist nicht dick, sondern korpulent.
Natürlich ist die Frau dick, genauso wie ich zum Beispiel große Ohren habe. Das Kind hat lediglich eine Feststellung getroffen und wird dazu getrieben, dies höflicher auszudrücken. Da Kinder solche Sätze ohne verächtliche Hintergedanken sagen ist das Schämen folglich ein Problem der Erwachsenen.
Akzeptanz ohne Hintergedanken
Im Kindergarten meines Sohnes kam ein neues Kind hinzu. Ein Integrationskind, was bei ihr bedeutet, das ein Arm an der Schulter aufhört. An dem Tag, an dem sie das erste Mal im Kindergarten war erzählte mir mein Sohn abends, dass jetzt die Mareike (Name geändert) neu im Kindergarten ist. Und die ist voll cool:
Sie hat einen langen und einen kurzen Arm, das heisst sie kann unterschiedliche Sachen mit ihren Armen machen. Wenn zum Beispiel etwas hoch oben ist, muss sie nicht nach oben greifen, weil ihr einer Arm bereits oben ist.
Hätte das ein Erwachsener zu mir gesagt, ich wäre verblüfft gewesen. Für Kinder ist diese Situation völlig normal. Zumindest in einem bestimmten Alter. Ein Alter, in dem es noch keinen Neid und keine Ausgrenzung gibt.
Natürlich könnte ich meinem Kind erklären, dass Mareike eine Behinderung hat, muss ich aber gar nicht. Ich finde es viel schöner, wenn alle Menschen gleich sind und man endlich damit aufhören kann, Menschen nach Äusserlichkeiten „einzustufen“. Klar ist: Kinder sollen sich an „Regeln“ halten. Diese versuchen sie aber ständig zu umgehen und zu rebellieren. Das ist ihr wahrer Lebensinhalt. Das ist ihre Aufgabe. Nicht 9 to 5, sondern 9 to 9. Wie langweilig wären Kinder, wenn sie immer all das machen würden, was ihre Eltern sagen?
Das Kind als dauerhafte Belastung?
Ein Kind sollte so akzeptiert werden, wie es ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass Erziehung zwar sehr viel bewirkt, dass Kinder aber eine gewisse Grundveranlagung mitbringen, die unveränderbar ist. Es ist ihr tiefstes Wesen, das wir nicht verändern, sondern lieben sollen. Ob es das Wesen ist, dass sich jeder Papa oder jede Mama für sich vorgestellt hat, spielt keine Rolle. Denn ebenso wie Kinder ihre Eltern bedingungslos lieben, so sollten Eltern das auch tun.
Oft ist das mit der Liebe so eine Sache. Wenn das Kind zum hundertsten Mal etwas macht, das es nicht darf, dann wird es für viele Eltern haarig. Die Geduld ist am Ende und dann… Ja, was passiert dann? Welche Möglichkeiten besitzt ein Erwachsener, wenn es mit Erklärungen schon hundert mal nicht „funktioniert“ hat? Man nähert sich dem Siedepunkt, der Punkt, an dem einigen Eltern „die Hand ausrutscht“ oder „der Klaps auf den Po“ eingesetzt wird.
Vielleicht lehne ich mich jetzt sehr weit aus dem Fenster, aber ich würde mal behaupten, dass alle Eltern bereits unzählige Male an dieser kritischen Schwelle standen. Wieso aber entscheiden sich einige Eltern für Gewalt und andere besinnen sich?
Selbstreflexion, Kreativität und Liebe helfen Kindern aus der misslichen Lage
Sich selbst gut zu kennen ist für Eltern unabdingbar, Selbstreflexion ein wichtiger Helfer. Eltern, die sich ihres Handelns voll bewusst sind werden ihr Kind nicht schlagen, auch wenn sie innerlich kurz vor dem Ausrasten sind. Gewalt wird ausgeübt, wenn Erwachsene nicht fähig sind ihren Kindern alternative Wege aufzuzeigen. Gewalt gegenüber dem Kind ist ein Symbol der Hilflosigkeit. Manchmal sind diese alternativen Wege nicht schwierig zu finden, manchmal um so schwieriger.
Dennoch sollten Eltern diesen Umstand als Herausforderung ansehen und diese auch annehmen. Gerade, und vor allem in Situationen, in denen man selbst nicht ausgeglichen genug ist.
Probleme sind nicht immer sofort lösbar
In gewissen Situationen wäre es förderlich aufzuhören, alle Probleme sofort lösen zu wollen. Längere Konflikte oder Auseinandersetzungen sind viele Menschen nicht mehr gewohnt. Es stört den inneren Frieden. Wer Kopfschmerzen hat nimmt eine Kopfschmerztablette, die Sitzposition am Arbeitsplatz bleibt jedoch unverändert.
Was ich damit sagen möchte: Eltern muss bewusst werden, dass Kinder sich nicht von heute auf morgen verändern werden, nur weil sie es sich wünschen. Oftmals stehen Eltern und Kinder am Beginn eines lang andauernden Veränderungsprozesses. Dies sollte man sich in Gedanken rufen, wenn man den Kindern zum hundertsten Mal erklärt, was sie auf keinen Fall tun sollen.
Keiner ist perfekt, keiner wird es je sein
Mein letzter Gedanke bezieht sich auf die Selbstreflexion. Die perfekten Eltern gibt es nicht, wird es nie geben. Um so wichtiger ist es, sich mit dem eigenen Erziehungsstil auseinanderzusetzen und eigene Fehler zu erkennen und sich diese auch einzugestehen. Danach kann man in neuem Bewusstsein und voller Freude die „Aufgaben“ neu angehen.
Bildnachweis
Johan Lange, CC BY-ND 2.0
Schöner Artikel und schöner Gedankengang. Falls es bei mir / uns mal in der Straßenbahn zu der „dicke Frau“ Situation kommen sollte, habe ich mir fest genommen die Frau zu fragen, was sie meint das ich sagen soll.
Da bin ich gespannt, Christian. Kannst mir ja dann berichten, wie die Situation verlief ;) Ich glaube, wir sollten uns einfach in vielen Dingen lockerer machen, was nicht heissen soll, dass Kindern alles erlaubt werden soll. Manchmal, liegt sicherlich auch am Alter meiner Kinder, merke ich einfach, dass ich sie für geistig viel weiter entwickelt halte, als sie eigentlich sind. Das erkenne ich dann genau an den hundert Mal sagen „Schubs deinen Bruder nicht“ und so ;) Obwohl er es in den Situationen dann immer sein lässt geht das ganze eine Stunde später wieder los ;)
Aber hey, letztendlich macht das alles so viel Freude und kleine Rangeleien unter Geschwistern müssen eben auch manchmal sein ;)
Noch spreche ich – bisher ohne Nachwuchs – leicht darüber, aber im Prinzip und aus Erinnerung an die eigene Kindheit und mitbekommen bei Kindern von Freunden sehe ich es auch so.
Schlimm ist dann aber auch, wenn die Kinder wie junge Erwachsene schon behandelt werden, am Schlimmsten wenn Sie sich dann auch noch so verhalten.
Den schmalen Grat zu finden, dass ist wohl die hohe Kunst.
Nachtrag:
Befand mich gestern aus jetzt unerheblichen Gründen in einem Legogeschäft. Dort gab es die Möglichkeit sich aus verschiedenen Bauteilen selber Figuren zusammen zu setzen. Ich brauchte für ein Projekt welche und saß da ca. 30min rum und suchte zusammen. In der Zeit kamen immer wieder Kinder und es war schön zu beobachten, wie sie mit der kindlichen Kreativität Sachen zusammenstellten, neu arrangierten und auf Ideen kamen, die zumindest mir erstmal grotesk erschienen.
Das traurige war, dass 2mal Eltern die Kinder regelrecht drängten die Sachen liegen zu lassen, eines der vorgefertigten – man kann schon sagen limitierenden – Sets zu kaufen, nur um schnell weiter zu eilen und das Kinde abszuspeisen. Lieber schnell was kaufen, als mal 10min inne halten und Freiraum geben.
Diese „dicke-Frau-Situation“ hatte ich vor vielen Jahren mit meiner damals 5 Jahre alten Nichte. Hamburg, rush hour, überfüllte Bahn und das Kind fragt mit Blick auf eine äusserst füllige Frau: „Ist die Frau schwanger?“ (die Mutter war gerade schwanger) Nach dem ersten Schreck antwortete ich: „Nein, der Bauch von Schwangeren sieht doch ganz anders aus. Das weisst Du doch.“ Das Kind (lauter werdend): „Ja, warum ist die Frau dann so dick?“ Ich (röter werdend): „Das weiss ich nicht, ich kenne sie ja nicht.“ Das Kind (aufstehend): „Soll ich sie mal fragen gehen?“
Wir sind dann zwei Haltestellen früher ausgestiegen. Dieser Dialog wurde noch viele Jahre später auf Familienfesten zitiert. Letztendlich weiss ich aber bis heute nicht, wie man sich aus so einer Situation für alle Beteiligten zufrieden stellend heraus spielt.
Lieber Foyd und Ihr anderen,
wahrscheinlich kommt mein Kommentar jetzt eh viel zu spät, doch ich hatte bisher keine Zeit –
Grund: Kind ;-)
Ich bin ein riesiger Fan von Jesper Juul, ein dänischer Soziologe, der mir sooo viel geschenkt hat! Eines seiner Bücher heisst „Aus Erziehung wird Beziehung“ und in diesem Title steckt eigentlich schon fast alles drin.
Kinder brauche keine „Erziehung“. Sie brauchen persönliche Beziehungen und Menschen, die Ihnen erklärt wie man speziell hier in unserer Gesellschaft zurecht kommt, was die Regeln sind – die woanders übrigens ganz anders sein können. In Thailand fragte mich meine „Massage-Mama“ beispielsweise freudestrahlend vor meinen FreundInnen:“What happen to you? Before you sooo sexy Body, now you so Bumbui!“ (Bumbui ist das Thai Wort für dicker Bauch). Sie fand es wohl offensichtlich weder blossstellend noch peinlich…
Daher finde ich, man kann es Kindern eben genau so sagen wie man es auch fühlt, beispielsweise: „Können wir nachher darüber reden? Mir ist das jetzt gerade zu peinlich, da es die Frau verletzten könnte“. Oder es ist einem eben nicht peinlich und man sagt:“Es gibt einfach ganz verschiedene Menschen auf der Welt – schau doch mal, da sind kleine, grosse, dünne, dicke…usw“.
Wichtig finde ich, dass man bei sich bleibt, persönlich bleibt. Nicht nach dem Motto:“So was darf MAN nicht sagen“, sondern:“Ich will nicht darüber sprechen, ich möchte solche Worte nicht hören“ (bei Schimpfworten) .
Ich glaube, dass uns durch erschreckende Beispiele, vor allem aber durch bescheuerte Literatur nach dem Motto „Kinder gleichen Tyrannen und was sie tun können damit sie nicht die Kontrolle zuhause übernehmen“ unser inneres Gefühl dafür verloren gegangen ist was Kinder wirklich wollen: nämlich uns gefallen, es uns Eltern recht machen und „gut“ sein. Sie tun`s fast den ganzen Tag und fast pausenlos. Wir Eltern hängen uns dann an Kleinigkeiten auf, die nicht so gut klappen und regen uns total auf. Wenn wir aber gerechter Weise mal überlegen würden wie oft das Kind heute schon „gefolgt“ hat, wie es sich ständig anpasst, dann würde es uns vielleicht leichter fallen auch ein zweites oder drittes mal freundlich zu bitten.
Meine Sohn hält mir mittlerweile jedenfalls gnadenlos den Spiegel vor. Beispiele gefällig? Voila:
Wir Eltern streiten. Unser Sohn: „Sofort hört ihr auf! Und zwar beide!“
Ich motze ihn an nachdem ich mehrfach versucht habe etwas bestimmtes zu erreichen. Eliah: „Kannst Du das nicht freundlich sagen? Meinst Du davon wird die Welt besser?.“
Eliah und ich haben uns gestritten und ich habe rumgeschimpft. Wir haben darüber geredet und uns verziehen. Ich:“Bist Du noch wütend auf mich““ Er:“ich war doch nicht wütend! Ich war traurig weil wir uns gestritten haben.“
Ich denke oft an einen Satz von Jesper Juul: Stelle Dir vor, Du würdest den Satz, den Du zu Deinem Kind sagen willst zu Deinem Partner/Deiner Partnderin sagen. Wenn das nicht funktioniert lass es lieber.
Da ist so viel dran. Ich würde natürlich niemals zu meinem Mann sagen: SOFORT kommst Du her. Oh Mann, jetzt lass das mal! Oooooh, DAS kannst Du aber schon toll! Wenn Du nicht sofort aufhörst darfst Du nachher das und das nicht. Sei nicht so frech.
Sonst wäre ich wahrscheinlich schon allein erziehend. Und die armen Kinder, die können sich eben nicht von uns trennen sondern ertragen uns mit unerschütterliche Liebe. Davon kann man jedenfalls lernen.
Liebe Grüsse
Anne