Wow, da draussen liegt viel Schnee. Zumindest für eine größere Stadt, die normalerweise sofort freigesalzt wird. Wie genieße ich diese Momente, wenn man morgens aufwacht, mal abgesehen davon, dass es meist viel zu früh ist, und 4 Kinderaugen jubelnd an der Balkontür kleben: „Papa, schau mal, Schnee! Jetzt ist Winter, oder?“ Das ist einfach zu niedlich, ehrlich.
Der geheime Masterplan: Schlittenfahren
Schon während dem Frühstück wird über den Tagesplan gesprochen. Schlittenfahren, yeah! Das ist doch eine super Idee. Die Kinder sind danach meist ausgepowert und schlafen abends glücklich ein. Ein kleines Problem galt es noch zu lösen: seitdem Kind 2 den Schneebob für sich entdeckt hat, aber weder bremsen, noch gezielt lenken kann, gingen wir immer zu einem kleinen Berg, an dem man Kind 2 am Ende noch auffangen konnte. Kind 1 wollte aber zu einem steileren Berg. Nach kurzer Absprache ging ich also mit Kind 1 zum großen Schlittenberg, während Kind 2 die Zeit alleine mit „Mama“ verbringen durfte. Kein schlechter Deal für alle Beteiligten.
Die Kleider-Orgie
Bevor wir losgingen musste Kind 1 noch schneegerecht verpackt werden. Mein erster Plan war, das Kind in genau der Position anzuziehen, in der es Schneebob fahren wird, da ich befürchtete, dass es sich nicht mehr bewegen könnte, wenn die Anziehprozedur überstanden ist. Strumpfhose, Longsleeve, Kapuzenjacke, Schneeanzug, Mütze, Handschuhe, Boots. Unglaublich, wie viele Kleidungsstücke man an so einem Kind aufhängen kann. Puh, fertig, endlich raus.
Die erste Fahrt
Kind 1 zog seinen Schneebob den Berg hoch. Wir liefen nebeneinander, unterhielten uns, beschmissen uns mit Schnee, tobten herum und genossen die Zeit. So lange, bis ich seitlich von einem scharfen Blick getroffen wurde. Neben mir zog eine Mutter ihr Kind mitsamt Schlitten hoch. Das Kind durfte ungefähr im gleichen Alter sein, vielleicht auch ein paar Monate jünger. Ihr Mann stand oben am Berg und rief ermunternde Worte nach unten. Die Mutter atmete schon etwas schwerer. Doch was sollte mir ihr Blick sagen? Etwas fragend und doch mit einem Schmunzeln im Gesicht lief ich weiter, als es unverhohlen herüber rief: „Wollen Sie ihrem Kind nicht mal helfen den Schneebob nach oben zu ziehen?“
In meinem Kopf herrschte eine verblüffende Ratlosigkeit, doch da ihr Blick eine Antwort erwartete rief ich zurück: „Nein, der schafft das ganz gut alleine.“ Ihr Mund verformte sich zu einer unzufriedenen Schnut, doch sie lief weiter. Ihre Atmung wurde noch etwas schwerer. Eine Lapalie, doch das sollte nicht die letzte Begegnung mit „Turbomama“ gewesen sein.
Den Berg hinunter
Kind 1 fragte mich, warum das andere Kind hochgezogen wird. Mist, ich dachte die Situation war geklärt, aber ich ahnte, nein ich wusste, doch da kam schon die alles entscheidende Frage: „Papa, kannst du mich nicht auch den Berg hochziehen? Bitte!“ Ok, das „Bitte“ hätte mich fast schwach werden lassen, doch ich suchte nach einem Ausweg: „Schau mal, die Frau möchte einfach ein wenig ihre Muskeln trainieren, etwas Sport machen, deswegen zieht sie ihr Kind den Berg hoch. Wir beide wollen aber doch auch fit sein, deswegen ziehst du deinen Schneebob und ich den Schlitten. Wenn wir oben sind können wir uns dann auf eine coole Abfahrt freuen.“ Mir ist bewusst, dass diese Antwort weder pädagogisch wertvoll, noch sinnvoll war, doch Kind 1 schien das in dem Moment zu reichen. Ausserdem hatten wir ein Ziel vor Augen. Kurz danach standen wir am Gipfel und überlegten uns die schnellste Route nach unten. „Papa, Wettrennen?“ Klar, sagte ich. Rechts neben uns sattelte „Turbomama“ bereits den Schlitten und blickte etwas finster zu uns rüber.
Egal, jetzt zählt es. Nebenbei sollte ich noch anmerken, dass Kind 1 sich eine etwas komische Einstiegstechnik für den Schneebob von einem anderen Kind abgeschaut hat. Heutzutage setzt man sich nicht einfach in einen Bob und fährt den Berg hinunter. Nein, man platziert den Bob genau an die Kante des Berges, stellt sich einige Meter hinter den Bob, nimmt Anlauf und springt hinein. „Kind 1, bereit?“ Als ich ein lautes „Ja!“ hörte gab ich das Startsignal: „Auf die Plätze, fertig, los!“ Kind 1 rannte wie bekloppt und sprang auf den Schneebob und ich gab dem Schlitten, auf dem ich saß, einen kräftigen Ruck. Eine kleine Blitzeisschicht überzog den Schnee, was die Rodelbahn etwas schneller machte. Wir rasten den Berg hinunter und kamen fast gleichzeitig unten an. Fast. Kind 1 gewann das Rennen, da mich ein kleines Schlagloch ausbremste. Als kleine Wiedergutmachung für die Niederlage fuhr Kind 1 in einen kleinen Strauch, der die Restgeschwindigkeit des Bobs elegant abbremste. Wir lachten und hatten jede Menge Spaß. „Nochmal?“ fragte ich und erhielt ein dankendes „Oh, ja, nochmal!“ als Antwort.
Die Vorwurfssonate
Noch während wir unten standen und lachten, erblickten wir „Turbomama“, die direkt auf uns zufuhr. Kind 1 lachte und meinte nur, dass die ja ganz schön langsam wären. „Das ist doch vollkommen egal, jede_r fährt so, wie es ihr_ihm Spaß macht.“ erwiderte ich. Ok, es war nicht zu übersehen, dass wir eine unterschiedliche Vorstellung von Geschwindigkeit hatten. Die Hälfte der Abfahrt bremste die Dame. Gut, mit Kind auf einem Schlitten muss man jetzt auch nicht die absolute Geschwindigkeit fahren. Es geht um den Spaß am „Draußen sein“, am Schnee, am Schlittenfahren und an der Bewegung.
Als wir wieder nach oben laufen wollten und an „Turbomama“ vorbeikamen, konnte man erneut dieses Unverständnis in ihrem Blick erkennen. Schnell schaute ich weg, um mich nicht auf weitere Diskussionen einlassen zu müssen. Zu spät, denn die Vorwurfssonate begann: „Das ist ja unverantwortlich, Sie wissen schon, dass das sehr gefährlich ist, was ihr Kind da macht, oder? Oben beim Einstieg ist alles vereist, da kann ihr Kind schnell mal ausrutschen und sich weh tun. Unten am Berg sind Sträucher und Büsche, da kann sich ihr Kind sehr schnell am Auge verletzen, wenn es reinfährt.“
So langsam fing die Dame an mich zu nerven. Doch mit einfachen Gegenargumenten konnte man der Frau nicht kommen. Kind 1 hörte, was die Frau sagte und antwortete: „Das Einsteigen in den Bob ist doch voll lustig und das am Strauch unten hat gar nicht weh getan! Ist doch voll cool, so schnell zu fahren!“ Erleichtert, dass sich nun Kind 1 begann mit „Turbomama“ auseinanderzusetzen, starrte ich entnervt in der Gegend herum, bis ein leises „Komm Kind, wir laufen wieder nach oben und fahren nochmal“ aus meinem Mund kroch.
Verdiente Entspannung am Berg
Hinter uns hörte ich noch ein paar Mal ein unmissverständliches „Das ist so etwas von unverantwortlich!“, doch Kind 1 und ich liefen zielstrebig weiter nach oben. Oben angekommen, beschlossen wir ein Stück weiter mach links zu laufen, um mehr Abstand zwischen „Turbomama“ und uns zu bringen. Die räumliche Entfernung würde uns sicherlich gut tun. Wir liefen zu einem steileren Stück des Berges, das unten einen großzügigen Auslauf zum Abbremsen hat. Die nächsten Fahrten waren einfach grandios. Wir schossen den Berg hinunter, fielen beide mal in den Schnee, fuhren gemeinsam Schlitten, etc.
Nach 2 Stunden hatten wir Hunger und beschlossen zum Mittagessen nach Hause zu gehen. Doch wir wollten unbedingt noch ein letztes Mal abfahren. Kind 1 schon sichtlich erschöpft: „Papa, kannst du bitte meinen Schneebob nach oben ziehen?“ Die Schnur des Schneebobs in der einen, die des Schlittens in der anderen Hand, liefen wir beide ein letztes Mal den Berg hoch. Während des Weges besprachen wir die Strecke der letzten Abfahrt. Wir hatten uns so weit vom Ausgangspunkt entfernt, dass wir quer zur Abfahrt fahren wollten.
„Papa, kannst du bitte vorausfahren, dass ich weiss, wo ich hinfahren muss?“ Der Schlitten bahnte sich mit mir seinen Weg nach unten, Kind 1 folgte kurze Zeit darauf. Als ich unten ankam und mich umdrehte, sah ich noch, wie Kind 1 sehr sehr schnell unterwegs war. Zack: ein riesen Sturz! Kind 1 weinte und ich lief hin. Nach ein paar Mal pusten, diversesten „Genesungsliedern“ usw. war alles wieder ok und wir machten uns auf den Weg nach Hause.
Turbomamas Abschiedsgruß
Kurz vor dem Ausgang sahen wir, wie sollte es anders sein, „Turbomama“ mit Kind abfahren. Es gab nur eine Möglichkeit: wir mussten schneller am Ausgang sein. „Komm Kind, setz dich in deinen Bob, ich ziehe dich bis zum Ausgang.“ Kind 1 nahm dankend an und ich versuchte so schnell wie möglich den Ausgang zu erreichen. Noch 50 Meter, das schaffst du, sagte ich zu mir, doch da entdeckte „Turbomama“, wie man ein paar Meter ohne zu bremsen Schlitten fährt. 10 Meter vor uns kam sie zum Stehen.
Als wir entspannt an ihr vorbeiliefen bemerkte ich, wie sich ihre Zunge bereits aufwärmte. „Sehen Sie, das ist es, was ich meinte. Das ist unverantwortlich von Ihnen. Ihr Kind ist gerade gestürzt und hat sich weh getan! Ich habe es Ihnen gesagt!“ Warum darf ich mir nicht einfach das Leben selbst schwer machen? Warum erledigen das immer andere für mich? Das finde ich unverantwortlich. Mir blieb nichts anderes, als ihr ein höfliches „Sie haben so Recht. Mein Kind ist tatsächlich gestürzt. Hingefallen und wieder aufgestanden. Unglaublich. Wieso können Sie nicht einfach die Zeit mit ihrem Kind hier genießen. Wenn Sie das nicht schaffen, dann unterlassen Sie es bitte, anderen, die hier Spaß haben wollen, diesen zu verderben. Mit Ihnen macht Schlittenfahren keinen Spaß. Ganz ehrlich. Bis zum nächsten Mal.“ zu entgegnen.
Kind 1 und ich liefen weiter, hinter uns hörten wir noch eine Kinderstimme „Mama, können wir bitte auch mal etwas schneller fahren?“ fragen. Die Stimmen hinter uns wurden leiser und leiser. Wir waren erschöpft und glücklich zugleich. Ein toller Tag auf der Schlittenbahn ging zu Ende und ich frage mich bis heute, was Menschen zu solch unverblümten „Ich habe es Ihnen doch gleich gesagt“-Besserwissern werden lässt.
Randnotiz an mich: der große Schlittenberg ist ungefähr großartige 150 Meter lang.
Tu mir einen Gefallen: nimm keine Bilder von dem. Der ist… speziell.
Hier ist eine Alternative:
http://www.flickr.com/photos/dstueber/2173626833/
Danke für den Hinweis Max. Oh man, so langsam brauche ich eine Liste von solchen Menschen, die kann ich mir nicht mehr alle merken.
Naja… du bist doch selber Fotograf *hüstel* ;)
Schon, habe aber beim Schlittenfahren nie eine Kamera dabei. Und wenn, dann müsste ich die abgelichteten Personen um Erlaubnis fragen. Die eigenen Kinder kommen nicht ins Netz, bis sie alt genug sind, das selbst zu entscheiden ;)
Noch ein paar Alternativen:
http://www.flickr.com/photos/hynkle/5379369325/
http://www.flickr.com/photos/catchesthelight/6407088893/
http://www.flickr.com/photos/airstreamlife/3283268358/
http://www.flickr.com/photos/welsnet/3387514899/
http://www.flickr.com/photos/clockwerks/4357754504/
So. Geschichte gelesen und SOFORT DIREKT WIEDER an meinen Lebt-Gefährlich!-Artikel denken müssen. Genau das meine ich nämlich. Hey Turbomama! Hinfallen IST Kindheit. Wehtun IST Kindheit. Unverantwortlich IST Kindheit. Ja, blaue Flecken auch. Du hast ja keine Ahnung, was so ein Wirbeltierauge alles aushält. Da kannste einen Dartpfeil drauf fallen lassen, und: das hält das aus. Ja, echt jetzt! Biologie-Unterricht, 10. Klasse. Die armen behüteten in Watte gepackten Flauschkinder tun mir soooo leid. Buhuhu ich könnt heulen.
Floyd: weiter so. Härter, schneller, wilder. Und bei Gelegenheit gehste mal unsere „Todespiste“ im Klingenbachpark suchen. Ziemlich genau hier. 45% Steigung, vollvereist, 1,5m breit mit Bäumen links und rechts. Sturzhelme waren damals noch nicht erfunden, die Welt war eine schwarz-weiße Scheibe und wir haben uns von Dinosauriern den Berg rauf ziehen lassen. Har har, Adrenalin pur.
PS: ansonsten kann man den Klingenbach auch quer durchfahren von West nach Ost. Nicht so steil aber viel länger und man kann sich am quer verlaufenden Weg eine geile Schanze bauen (die von Turbomamas bestimmt sofort platt gemacht werden würde).
und solche Artikel ermuntern mich dann doch wieder Kinder in die Welt zu setzen, damit endlich die Guten nicht von den Turbomamas verdrängt werden!
Danke dafür.
Tu es! ;) Ich finde Kinder einfach prima und teilweise unglaublich witzig. Vor allem aber direkt und unverkrampft im Umgang miteinander. Wenn sie jemanden doof finden, dann sagen sie das genauso, wie wenn sie jemanden toll finden. So einfach kann es sein. Den Turbomamas sollten wir auf alle Fälle etwas entgegensetzen, denn kein Kind braucht eine Mutter (oder einen Vater), die sich über ihr Kind selbst verwirklichen wollen.
Da bist du einem echten Muttertier begegnet. Hauptsache ihr hattet Spaß. Das nächste Mal einfach einen längeren Berg fahren, da kann man sich besser aus dem Weg gehen. Danke für sie tolle Geschichte.